Zeitliche Dimensionen
Nuna, eine Imuhar (Tuareg) Nomadin in der Sahara, trägt eine digitale Armbanduhr, die ihr jeweils die nächste Stunde hörbar ankündigt. Um 12 Uhr Mittag und um Mitternacht piepst die Uhr deutlich länger. Zu Mittag piepst eine Digitalarmbanduhr fast bei jedem Zelt. Meist jedoch nacheinander, da die Uhren nicht alle auf die gleiche Zeit eingestellt sind. Für Nuna ist ihre Uhr ein Statussymbol und sie kann die Stunden und Minuten von ihrer Uhr aus Japan nicht ablesen. Dies ist auch nicht nötig, da sie aus dem Sonnenstand ablesen kann, dass nun zum Beispiel Tarut (Mittag) ist. Sie teilt ihren Tag (Ahel) nicht nach Stunden oder Minuten ein. Sie benutzt Begriffe, die sehr präzise den jeweiligen Abschnitt am Tag definieren:
AHEL (Tag)
Tufat (Morgen)
- Ahokhak (früher Morgen, vor Sonnenaufgang)
- Tesebberbert (erstes Licht des Tages)
- Agmud en-Tafuk (Sonnenaufgang)
- Agedelsit semmidet („der kalte Vormittag“/ die Zeit von Sonnenaufgang bis zu zwei Stunden später)
- Agedelsit tekkuset („der warme Vormittag“/ die Zeit am Tag wenn die Sonne höher steigt am Himmel)
Tarut (Mittags)
- Ewa-d yegun Ahel („Der Moment an dem sich der Tag wendet“)
- Ererewal („Stunde, in der der Schatten nach Osten zu wandern beginnt“)
Tadeggat (Nachmittag)
- Tazerrahat (die erste Stunde des Nachmittags)
- Azellewaz (die Stunde vor Sonnenuntergang)
- Egadal n Tafuk (Sonnenuntergang)
- Almoz (Zeit der Abenddämmerung)
Ehod (Nacht)
- Azuzeg („Zeit des Melkens“/ein bis zwei Stunden nach Sonnenuntergang)
- Tisutsin („Schlafenszeit“/zwei bis vier Stunden nach Sonnenuntergang)
- Ewa d yezum Ehod („Zeit wo sich die Nacht wendet“/Mitternacht)
- Tesessenkert („Zeit der Aufstehens“/letztes Drittel der Nacht)
Wochentage haben für Nuna keine große Relevanz. Heutzutage werden die Bezeichnungen der Wochentage aus dem Arabischen übernommen. Für Nuna ist Ahel wa-rer (Heute), Tufat (Morgen) und Ahel-in sel Tufat (Übermorgen) oder Gestern (End Ahel) beziehungsweise Ahen-d-in sel end Ahel (Vorgestern) von Bedeutung.
Nuna weiss genau in welchem Abschnitt im Monat (Tallit) sie sich befindet. Tallit heisst nicht nur der Monat, sondern auch der Mond selber. Die Monate orientieren sich nach den Mondphasen und so kann sie anhand des Mondstandes und der Form erkennen in welchem Abschnitt des Monats sie sich befindet beziehungsweise wann ein neuer Monat beginnt.
Tallit ta n Azum „der junge Monat“/ Ramadan / Fastenmonat
Tallit ta n Tasese „Monat des Trinkens“
Tallit en gir Muhden „Monat zwischen den Festen“
Tallit en Tafaske „Monat des Opferns“
Tallit en Tamessedek „Monat der Almosen“
Tallit settefet „schwarzer Monat“
Tallit ereret „gelber Monat“
Tallit n Awhim wa yezzaren „Monat der ersten Gazellengeburt“
Tallit n Awhim wa ilkemen „Monat der letzten Gazellengeburt“
Tallit en Sarat „Monat der Stunde/Zeit“
Tallit en Tneslemin „Monat der Religösen“
Tallit n Amezzihel „Monat des Laufens“
Der Stand der Sonne zeigt Nuna die Uhrzeit tagsüber an und anhand des Mondstands kann sie sich zeitlich in der Nacht orientieren. Mit Hilfe der Sterne am nächtlichen Himmel weiss sie in welchem Monat im Jahr (Awetay) sie sich befindet. Dafür benötigt sie nicht die Datumsanzeige auf ihrer Digitaluhr.
„Étoiles et constellations sont bien connues des nomades qui traversent le désert, comme des marins qui voguent sur l`océan: le ciel limpide constitue une carte qu`ils savent lire lorque la nuit est venue et que sur le sol, ou sur la mer, ne s`inscrit aucune marque susceptile de les orienter“ (Bernus/ag-Sidiyene 1989: 141).
Die Imuhar-NomadInnen benutzen ihre Beobachtungen für einen pastoralen Kalender, der ihnen die Jahreszyklen, in welchen Trockenheit, Feuchtigkeit, Kälte und Hitze vorherrschen, angibt (siehe dazu Bernus/ag-Sidiyene 1989: 142).
„Die Thematik des Agrarkalenders führt vielmehr unmittelbar zum Verhältnis von Arbeit und Denken, von Handeln, Materiellem und Ideellem in einer außereuropäischen Kultur, und zu Formen der Konzipierung von Zeit in diesem Verhältnis durch die untersuchte Kultur“ (Gingrich 1994: 5).
Imuhar-NomadInnen können sich nach einem Solarkalender, einem Lunarkalender und einem solilunarem Sternkreiskalender orientieren (siehe dazu Ritter 2009a: 990f.). Das Wissen der Imuhar-NomadInnen über die verschiedenen Sternkonstellationen ist nicht nur sehr komplex, auch sind es ihre Kenntnisse über die Jahreszeitenzyklen. Dieses saisonale Zeitkonzept ist eng mit ihrer Tätigkeit als ViehzüchterInnen verwoben.
Nicht Jahreszahlen, sondern Ereignisse markieren die unterschiedlichen Jahre.
Zum Beispiel:
1866 - Awetay wa-dd-ameharnat Tenaden (Jahr des Raubes der Schmiedefrauen)
1869 - Awetay wa-t tegraw lumet Addunat dar Adalas (Jahr, in dem die Leute von Ideles die Windpocken bekamen)
Die Vergangenheit kann man im Tamahaq mit a Yazzaren (lit.: das Vorangegangene) und die Zukunft mit a Ylkaman (lit.: das Folgende) übersetzen. Über die Vergangenheit zu sprechen ist stark tabuisiert, da über Menschen, die gestorben sind, tunlichst nicht gesprochen werden sollte. Es besteht die Gefahr, dass die Kel Esuf erscheinen, die Unglück bringen können.
Als ich einmal Nuna fragte, wie das Wetter morgen werde, meinte sie, das wüsste nur Allah. Selbstverständlich weiss Nuna ganz genau, was die Wolken am Himmel für die Wetterentwicklung bedeuten. Idealerweise sprechen die NomadInnen nicht über die Zukunft.
Jedoch haben Imuhar eine Möglichkeit über das Wahrsagen mit der Zukunft zu kommunizieren und gerade Nuna ist darin eine Spezialistin. Mit dem Igihan n Amadal kann man eine Frage an die Zukunft richten. Mit einem Fingergelenk werden schnell eine Reihe Löcher in den Sand geformt und dann ergibt die Summe der Kuhlen jeweils ein bestimmtes Zeichen. Fünf bis sechs solcher Zeichen ergeben dann die Botschaft, die die Antwort enthält. Für diese Igihan n Amadal (lit.: Punkte im Sand) gibt es jeweils SpezialistInnen. Bestimmte Männer oder Frauen sind qualifiziert diese Kommunikation zu führen und ihre Vorhersagen sind besonders treffsicher. Damit kann man zum Beispiel erfahren, ob bestimmte Personen bald zurückkommen oder BesucherInnen erscheinen werden.
Das Zeit- und Raumkonzept der Imuhar beeinflusst die Wahl der Äusserungen und reflektiert die kulturspezifische Wahrnehmung.
Auszug aus SPRECHKUNST DER TUAREG