Ethnographie des Sprechens  (Ethnography of Speaking)

„Die Ethnographie des Sprechens befasst sich mit den Situationen und Gebrauchsweisen, den Mustern und Funktionen des Sprechens als einer gesellschaftlichen Aktivität aus eigenem Recht“
(Hymes 1979: 33).

ANSATZ
Hymes baut mit seinem Ansatz zur Ethnographie des Sprechens unmittelbar auf die Untersuchungen von Sapir und Boas auf. Sapir (1929) meint, dass die Linguisten über die Struktur ihres Objektbereiches hinaussehen und erkennen sollten, wie bedeutend diese Wissenschaft für die Interpretation des menschlichen Verhaltens sei und dafür sei es unumgänglich, die anthropologischen, soziologischen und psychologischen Aspekte, die die Sprache berühren, mit einzubeziehen.
Boas (1943: 314) stellt fest, dass, wenn wir uns ernsthaft darum bemühen, die Vorstellungen einer Gesellschaft zu verstehen, die ganze Analyse der Erfahrungen auf ihren, nicht auf unseren Begriffen basieren muss. Boas definiert damit eine Analyseperspektive, die später von Pike (1967) als emischer Ansatz bezeichnet wird (Die etische Analyse setzt einen systemexternen und die emische einen systeminternen Standpunkt voraus (Pike 1967: 37ff.)).
Für Hymes (1979: 145) definiert sich dieser Standpunkt, indem „ ... danach gefragt wird, was die Mitglieder einer Sprechgemeinschaft als Bestandteil des Beschreibungsgegenstands akzeptieren“. Er fokussiert in seiner Ethnographie des Sprechens die Bedingungen des kulturadäquaten Kommunikationsverhaltens und konzentriert sich auf die Gesamtheit aller Kommunikationsgewohnheiten einer Gemeinschaft.

ZENTRALE BEGRIFFE
Zentrale Begriffe dieser Analyse sind: Sprechgemeinschaft (speech community), Sprechsituation (speech situation), Sprechereignis (speech event) und Sprechakt (speech act). Sie dienen als heuristisches Gerüst des im einzelnen auszudifferenzierenden, deskriptiven Rahmens (siehe Hymes 1979: 156).

Der gesamte Ansatz wird von Hymes einmal als ethnography of speaking (1971[1962]) bezeichnet oder auch als ethnography of communication (1964), ways of  speaking (1974) und models of the interaction of language and social life (2003).

KOMPONENTEN / FAKTOREN
Nicht nur die Bezeichnungen seiner deskriptiven Theorie (siehe dazu Hymes 2003: 34ff) wechseln, sondern auch die Anzahl seiner Komponenten des Sprechens, auch als Komponenten des Sprechaktes (2003: 40) bezeichnet. Diese Komponenten werden von Hymes zuerst Faktoren genannt. Sind es zunächst sieben Faktoren (siehe Hymes 1971 [1962]: 25), wächst die Anzahl später auf 16 Komponenten (2003: 40ff). Um sich die einzelnen Komponenten leichter zu merken, bietet er eine Gruppierung um die Buchstaben des Begriffes SPEAKING (Situation/Participants/Ends/Act sequences/ Key/Instrumentalities/ Norms/Genre) an. Dieses SPEAKING-Modell bietet ein etisches Gerüst für die Beobachtung der Sprechtätigkeit in den natürlichen Sprechsituationen. Die Grundlage der Analyse muss immer die Beobachtung des Systems-in-Funktion sein (siehe dazu Hymes 1979: 193ff.).

KOMMUNIKATIVE KOMPETENZ
Chomskys linguistischer  Kompetenz setzt Hymes die kommunikative Kompetenz als sein Analyseziel gegenüber. Gumperz (1972: 205) definiert den Unterschied: Während die linguistische Kompetenz die Befähigung des Sprechers, grammatikalisch korrekte Sätze zu formulieren betrifft, beschreibt die kommunikative Kompetenz die Fähigkeit des Sprechers, aus einer Gesamtheit von möglichen, grammatikalisch korrekten Formulierungen diejenigen auszuwählen, die die entsprechenden Normen des Verhaltens in der jeweiligen Begegnung reflektieren.
Der Grammatikabilität in Chomskys kommunikationsunabhängiger Sprachanalyse setzt er die Akzeptabilität gegenüber. Die sprachlichen Ausdrücke werden vom Sprecher beziehungsweise von der Sprecherin nicht nur in Hinsicht auf ihre Wohlgeformtheit beurteilt. Auch Angemessenheits- und Akzeptabilitätsurteile in Beziehung zu Kontexten, Sprechsituationen und Zwecken fällen zu können gehören zu den Fähigkeiten, die dem adäquaten Gebrauch der Sprache zuzurechnen sind (siehe Hymes 2001). Die diversen soziokulturellen Gruppen können sich nicht nur durch verschiedene Sprachen beziehungsweise Dialekte, die sie sprechen, unterscheiden, sondern Gemeinschaften können sich auch in ihrer Sprechweise, in der Art und Weise, wie sie von ihrer Sprache Gebrauch machen, unterscheiden.
Die Art und Weise der Koordination der sprachlichen und nicht-sprachlichen Elemente im Kommunikationsverhalten sind weder natürlich noch willkürlich festgelegt. Die Sprechweise ist Teil eines kulturspezifischen Regelsystems, das zum Wissensstand beziehungsweise zu den Fähigkeiten der Mitglieder einer jeden Sprechgemeinschaft gehört.

KOMPONENTEN DES SPRECHENS (SPEAKING-MODELL)
Innerhalb des SPEAKING Modell unterteilt Hymes sechs von acht Komponenten wiederum in Komponenten:

Situation                 - Setting
                               - Scene
Participants            - Speaker (or Sender)
                               - Adressor
                               - Hearer (or Receiver, or Audience)
                               - Adressee
Ends                       - Purposes- outcomes
                               - Purposes- goals
Act sequences        - Message form
                               - Message content
Key                         - Key
Instrumentalities     - Channel
                               - Forms of speech
Norms                    - Norms of interaction
                               - Norms of interpretation
Genres                   - Genres

Hymes Komponenten sind eine klare Weiterentwicklung der sechs Faktoren (Context, Adresser, Message, Adressee, Contact, Code), die von Jakobson (1960) entwickelt wurden. Anders als Hymes ist Jakobson als Linguist stärker am linguistischen Code und weniger an den sozialen Aspekten der Sprache interessiert. Die hier angeführten Komponenten sind als Anhaltspunkt zu sehen und werden von Hymes in der Anzahl und auch in den Bezeichnungen flexibel gehandhabt.
Hymes (1971 [1962]) geht davon aus, dass für jede Forschung ein individuell abgestimmtes Konzept zu erarbeiten ist. Es hat sich gezeigt, dass Analysen streng nach dem SPEAKING-Modell, klassifiziert  nach allen Komponenten, rar sind (Duranti 1997: 288). Ebenfalls hat sich herausgestellt, dass die analytische Trennung von Sprechereignis und Sprechsituation problematisch ist (Duranti 1997: 289). Bei einer holistischen Betrachtungsweise ist die klare analytische Trennung der Komponenten kaum durchführbar, da die einzelnen Komponenten ineinander übergehen.



ANWENDUNGSBEISPIEL

Der Ausgangspunkt im Buch „Sprechkunst der Tuareg: Interaktion und Soziabilität bei Saharanomaden“ ist der von Hymes entwickelte Ansatz der Ethnographie des Sprechens. In diesem Buch wird versucht, die komplexen Zusammenhänge in Bezug auf das Sprechen darzustellen. Dafür ist der Schauplatz, wo sich das Sprechen abspielt, ein zentrales Thema.

„Der Schauplatzfaktor im Sprechereignis ist von grundlegender Bedeutung, aber schwierig zu erfassen“ (Hymes 1979: 52).

Für die Darstellung des Schauplatzes (situation) betrachtet die Autorin Im Buch zunächst die räumlichen, zeitlichen und sozialen Hintergründe bei den Imuhar-NomadInnen, die den Rahmen (Goffman 1980) bilden. Ein Beispiel im Hinblick auf die Einbeziehung des Schauplatzes in die Analyse des Sprechens ist Durantis (1992) Artikel Bodies in social space. Auch wenn  die Teilnahme (participation) eine wichtige Dimension im Ansatz von Hymes zur Betrachtung der Sprechgemeinschaft darstellt, bildet sie nicht den zentralen Aspekt seines Modells (Duranti 1997: 294). Dazu wird Goffmans Ansatz (1980) interessant, in dem er „life as a stage“ sieht. Goffman (1981) (unter anderen) vollzieht die Dekonstruktion von „Speaker“ und „Hearer“.
In der Analyse wird speziell auf Goffmans face-work (1972) eingegangen.
Die Anzahl der linguistischen Codes einer Sprechgemeinschaft muss empirisch festgelegt werden (Hymes 1971[1962]: 47). Die Übergänge zwischen Form der Botschaft (form of message) und Form des Sprechens (form of speech) wiederum sind fließend. Hymes zählt zum Beispiel die Geheimsprachen klar zu den Codes: „The presence of argots, jargons, forms of speech disguise, and the like enters here“ (Hymes 1971 [1962]: 26). Zum Thema Geheimsprachen gibt es in der Anthropologie sehr wenige Studien und wenn, dann vor allem Arbeiten über Geheimsprachen bestimmter sozialer Gruppen in einer Gemeinschaft. Zu der Komponente Codes (forms of speech) zählt er unter anderem die Sprachen, Dialekte und Register (Hymes 2003: 44). Forschungen zu diesen Aspekten sind vor allem in der Soziologie, im speziellen in der Soziolinguistik zu finden.
Hymes (2003: 44) sieht ein theoretisches und empirisches Hauptproblem darin, die verschiedenen verbalen Ressourcen einer Gemeinschaft zu unterscheiden. Zu diesen zählen auch die verschiedenen Sprechgenres.

Gerade bei den Imuhar-NomadInnen  sind die Formen des versteckten Sprechens sehr umfangreich. Vor allem  in der Analyse wird im Buch „Sprechkunst der Tuareg“ auf die Zwecke beziehungsweise die Funktionen dieses getarnten Sprechens jeweils im Zusammenhang mit Soziabilität eingegangen. In diesem Zusammenhang sind unbedingt die Normen der Interaktion bei den NomadInnen zu betrachten. Diese umfangreichen Regeln des angemessenen Sprechverhaltens bei den Imuhar beinhalten mehr als lediglich das grammatisch korrekte Sprechverhalten. Für die Ermittlung der Normen sind Anzeichen dafür, dass solche Regeln verletzt werden, besonders hilfreich (Hymes 1979: 53). „Norms of interpretation implicate the belief system of a community“ (Hymes 2003: 45). Die Einbeziehung des Glaubenssystems der Imuhar-NomadInnen in die Analyse erlaubt einen Einblick in den eigentlichen Beweggrund dieser spezifischen Sprechweise der Imuhar-Nomadinnen und zeigt, wie maßgebend die Kosmologie der Imuhar für ihre Sprechweise (way of speaking) eigentlich ist.
Es gilt, die soziokulturellen Besonderheiten der einzelnen Sprache so detailliert wie möglich darzustellen, um die anthropologischen Konstanten der Sprache zu erfassen. Dafür werden die Bedingungen des adäquaten Kommunikationsverhaltens fokussiert und es wird versucht, die Kommunikationsgewohnheiten einer Gemeinschaft darzustellen.

ZUGANG
Hymes (1971: 16) spricht zwei Zugangsmöglichkeiten an: Was haben Kinder oder Fremde über die Sprechweise in einer Gemeinschaft zu lernen, um sich adäquat in ihr zu verhalten?  Schiffelin (1990) wählt den Zugang zur Sprechweise über die Sozialisation der Kinder bei den Kaluli (Papua New Guinea) und beschreibt in ihrer Studie, wie und in welchem Maße das Sprechen in Sozialisation und Erziehung einhergeht. Im Buch "Sprechkunst der Tuareg" wird der Zugang über den Blickwinkel des Fremdseins in einer Gemeinschaft gewählt, um die Sprechweisen (ways of speaking) in Bezug auf die Imuhar-Nomadinnen als Teil des sozialen Lebens näher zu untersuchen.

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