NOMADISMUS versus NOMADOLOGIE

Nomadismus

Zum Begriff Nomadismus gibt es unterschiedliche Auffassungen, vor allem weil das Erscheinungsbild des Nomadismus eine große Variationsbreite besitzt.

DEFINITION IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM:

In einer aktuellen Definition (Leder 2002: 11)  ist Nomadismus gekennzeichnet durch:

  • Mobilität, welche permanent bzw. zyklisch und daher lebensformprägend ist und in Gruppen (Familien etc.) erfolgt,  
  • Erschließung der Lebensgrundlagen durch extensive Weidewirtschaft oder durch Mobilität gewonnene Erwerbsquellen,       
  • Interaktion mit Sesshaften.     

DEFINITION IM ENGLISCH- UND FRANZÖSISCHSPRACHIGEN RAUM:
Die allgemeine Begriffskonvention, laut Dawn Chatty (2006: 8) und Philip Carl Salzman (2004: 17), kennzeichnet
- Nomadismus als geografischen Terminus in Bezug auf die Nutzung des Raums, während sich
- Pastoralismus auf den Lebensunterhalt – das Züchten von Vieh auf Naturweiden – bezieht.
Des Weiteren wird zwischen nomadischen Jägern und Sammlern, zwischen nomadischen Händlern und nomadischen Pastoralisten, differenziert (Salzman 2004: 18).
Im englischen Sprachgebrauch findet man  den Begriff nomadic pastoralist (Chatty 2006), der an sich eine Tautologie darstellt.

NOMADISMUS-FORSCHUNG:
Die Begriffskonvention zu Nomadismus zeigt die klare Präferenz einer geografischen und wirtschaftlichen Kennzeichnung. Die Wirtschaftsform wird über die Lebensform gestellt. Salzman (2004: Vii) warnt vor einer „oversimplification“ des pastoralen Lebens und untersucht auch Gleichheit, Hierarchie und das Verhältnis zum Staat bei PastoralistInnen.

DIFFERENZIERUNGEN:
Weil das Erscheinungsbild des Nomadismus eine große Variationsbreite besitzt, gab es Bestrebungen zu typologischen Verfeinerungen wie Vollnomaden oder Halbnomaden. Die Faktoren des nomadischen Lebensunterhaltes sind jedoch ständigen Veränderungen ausgesetzt, sodass heutzutage mobile Strategien in den Vordergrund rücken.

Die nomadische Mobilität prägt nicht nur die Wirtschaftsform sondern darüber hinaus die gesamte Lebensform. So unterscheidet sich zum Beispiel nicht nur das Wirtschaftssystem bei Nomaden, sondern auch das Gesellschaftssystem, das Rechtssystem, das Normensystem, die immaterielle und materielle Kultur, von im Umfeld lebenden sesshaften Gesellschaften.

 Dem Nomadismusdiskurs mit seinem starken geografischen und ökonomischen Akzent steht eine Nomadologie gegenüber, die darüber hinaus weitere Interpretationsansätze eröffnet.

Nomadologie


Die Wissenschaft von den NomadInnen heißt eigentlich übersetzt Nomad-ologie.  Nomadologie als Studium des Nomadentums ermöglicht nicht nur ökonomische und geografische Aspekte zu analysieren, sondern weitere wie soziale, politische, kulturelle, psychologische und philosophische Strukturen zu  untersuchen.

POSTMODERNE NOMADOLOGIE:
Der Terminus Nomadologie wurde erstmals in der postmodernen Debatte in den 1980er- Jahren verwendet. Deleuze und Guattari (2005) entwarfen eine Nomadologie in der Philosophie, in der das NomadInnenleben als antitraditionell und antikonformistisch charakterisiert wird. Die nomadische Mobilitätsstrategie wird nicht reterritorialisiert oder wie die eines Migranten aufgefasst. Das Bewegungsmuster von NomadInnen innerhalb von reversiblen Grenzen wird mit einem Rhizom verglichen, das fähig ist, sich horizontal auszubreiten und neue Mitglieder mit aufzunehmen ohne die Gesamtstruktur zu ändern.
Eine nomadische (rhizomatische) Denkweise wird präsentiert, die sich bewusst wehrhaft gegen ein zentralisiertes staatliches Denkmodell wendet. In dem darauf folgenden postmodernen Diskurs erfolgte eine Romantisierung des Nomaden als geografische Metapher par excellence.
In Iain Chamber’s (1990) nomadischer Vision dient der internationale Flughafen als Drehscheibe, strukturiert wie eine kleine Stadt. Nicht allein das nomadische Denken dient hier als Metapher, sondern der nomadische Lebensstil wird für eine postmoderne Vision herangezogen.

Diese geografische Metapher der Postmodernisten ist nicht nur vorwiegend maskulin und individualistisch, sondern zutiefst eurozentristisch. Sie eignet sich nicht-europäische Erfahrungen zu Gunsten einer europäischen Theoriebildung an. Postmodernisten romantisieren NomadInnen zu Ausgestoßenen, frei von den Fesseln der Normalität (Cresswell 1997: 378). Tim Cresswell vergleicht diese metaphorischen NomadInnen mit Edward Said`s (1979) Darstellung des westlichen Bildes vom Orientalen im Orientalismus: Einerseits werden jene als generalisierte Gefahr für die Zivilisation gesehen und andererseits als heroische Figuren, die Widerstand gegen eine disziplinierte Gesellschaft leisten.

ANTHROPOLOGISCHE NOMADOLOGIE:

Ähnlich wie in der Nomadismus-Debatte wird auch in der postmodernen Nomadologie-Debatte das Nomadentum meist auf eine geografische Komponente reduziert. Mobilität dient als Sinnbild des postmodernen Nomaden. Modernität und Globalität werden jedoch rein mit westlichen NomadInnen assoziiert.
Eigentlich müsste man annehmen, dass innerhalb des postmodernen Diskurses nun auch ein Interesse an traditionellen Mobilitätsstrategien und ihrer rezenten Entwicklung bestehen müsse, jedoch erfolgt eine „Marginalität oder gar Exklusion, und ihre Lebenssphäre, im vorliegenden Fall Sahel und Wüste, wird auch in einer globalen Welt als Peripherie oder allenfalls als Transitraum wahrgenommen“ (Boesen 2004: 210).
Rezente anthropologische Studien erkennen jedoch veränderte, lokal und global beeinflusste Mobilitätsstrategien, die
traditionelle, rurale NomadInnen zu "urbanen" NomadInnen werden lässt.

Das Studium des Nomadentums, die Nomadologie, kann jedoch losgelöst aus einem eurozentrischen Postmodernismus und im eigentlichen Sinne verwendet werden. Dann offeriert sie eine uneingeschränkte Analysemöglichkeit des Nomadentums.

Auszüge aus dem Buch:
 Nomaden der Sahara.Fischer, Anja 2008.

Siehe auch moderne Nomaden.

Weiterführend dazu:
Fischer, Anja 2010: „Research and Nomads in the Age of Globalisation“,
in: Fischer, Anja/Ines Kohl (Hg.) Tuareg Society within a Globalized World, London: Tauris, S. 11-22.

Ausschnitte dazu:
- 1) Modern Nomads
- 2) Nomadism / Pastoralism
- 3) Postmodern Nomadology
- 4) Nomads and Globalization in the Sahara
- 5) Nomadology - New Approach in the Anthropology of the Nomads
 

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