Arbeitskonzept der Nomaden und Nomadinnen
Erzer n Tamet ahan dau Tizuken-net,
Erzer n Ales ahan dau Tinsauin-net.
Der Reichtum der Frau beï¬ndet sich unter ihrem Hintern,
der Reichtum des Mannes beï¬ndet sich unter seinen Zehen.
Zu dem Fehlschluss, dass Männer aus afrikanischen Hirtengesellschaften über Frauen uneingeschränkt herrschen können, kam es unter anderem, weil westliche Eigentumskonzepte auf traditionelle Ökonomien übertragen wurden (Schultz 1996). Die Rolle der Frauen und ihre Einï¬ussmöglichkeiten wurden innerhalb der Gesellschaften unterschätzt.
Während sich eine Nomaden-Frau bei den Imuhar (Tuareg) durch ihre Standorttreue auszeichnet, liegt der Reichtum des Mannes bei den Imuhar (Tuareg) in seiner Mobilität. Das gleiche Prinzip ï¬ndet sich in den wirtschaftlichen Handlungsprozessen: einerseits das stationärere Arbeitskonzept der Nomadinnen, andererseits das ambulantere Arbeitskonzept bei Nomaden.
KONTINUITÄT
Stetig gleiche Handlungsabläufe prägen den Alltag der Frauen. Die Arbeitswelt der Nomadin beï¬ndet sich im Umfeld des Zeltes, im „intérieur“. Innerhalb der ersten Dimension ihrer Arbeitswelt, des Elem (Körper), verrichtet sie Schwerarbeit, die kontinuierlich konzipiert ist. Darauf abgestimmt, ist die zweite Dimension ihrer Arbeitswelt, die Aselsu (textile Hülle). Ihre wirtschaftlichen Handlungsfelder spielen sich vorwiegend im Bereich des Zeltes (Ehan) ab. Selten überschreitet sie die Grenzen der vierten Dimension, der Erahar (grüne Adern). Nur während der Tekle (kollektive Bewegung) durchquert sie die fünfte Dimension, die Tenere (Ort weit draußen). Die sechste Dimension ihrer Arbeitswelt, das Asouf (Universum), mit den darin vorkommenden Geistern (Kel Asouf) beeinï¬ usst wiederum jede ihrer Handlungen.
FLEXIBILITÄT
Die Kapazität des Nomaden dagegen liegt in seiner Fähigkeit den ständigen Wechsel zwischen intérieur und extérieur, dem Asouf, zu meistern (Claudot-Hawad 2002b: 15). Seine wirtschaftlichen Handlungsfelder führen ihn immer wieder in die fünfte und sechste Dimension der Arbeitswelt. Die situative Arbeitsweise des Nomaden kann man vor allem als psychisch schwer bezeichnen. Immer wieder ist er beim Hüten der Dromedare der Einsamkeit in der Tenere ausgesetzt. Die Arbeitsfelder der Kel Ahnet-Nomaden reichen bis in die Oasen, in denen nomadische Arbeitsprinzipien mit marktwirtschaftlichen, wie die Lohnarbeit, in einen Staatsapparat eingebettet, zusammentreffen.
REZIPROZITÄT UND SOLIDARITÄT
Geschlechtersegregation schafft weibliche und männliche Machtfelder, die jeweils eigene soziale Netzwerke bilden. Für den Aufbau und die Pï¬ege von sozialen Netzwerken sind Räume zentral (Möwe 2000: 31f.). Das Zentrum der genderspeziï¬schen Netzwerke der Imuhar sind die gemeinsamen Teerunden, die ein zeitlich begrenztes Ritual darstellen (Kohl 2005: 149f.). Während der Teerunden ï¬ndet die Kommunikation statt, die ökonomische und soziale Belange betrifft und die erforderlich ist, um als Kollektiv agieren zu können. Die ökonomischen Beziehungen sind stets persönlich und basieren auf Reziprozität und Solidarität.
HIERARCHIE
Die nomadischen Kooperativen sind hierarchisch strukturiert. Einerseits gibt es LeiterInnen einzelner Arbeitsgruppen, die sich durch ihre Kompetenz als SpezialistInnen auszeichnen. Andererseits werden die Frauen- und Männernetzwerke jeweils von einer Tamrart beziehungsweise einem Amrar geleitet. Diese Position wird nicht nach dem Senioritätsprinzip vergeben, sondern basiert auf ökonomischer und sozialer Kompetenz.
MORALITÄT
Die Kollektive dienen ebenfalls zur Kontrolle der Arbeitsmoral, doch nicht ausschließlich: auch die Angst vor übernatürlichen Sanktionen durch die Kel Asouf steuert die Handlungsmoral. Erfolgreiche NomadInnen werden durch den Besitz von Takrakit (Benehmen/Respekt) ausgezeichnet. Dies spielt im Zusammenhang mit wirtschaftlicher Handlungsmotivation eine dominante Rolle. Arbeit wird als Wert an sich gesehen und folgt nicht dem Prinzip der Notwendigkeit. Strategien, die sich gegen einen permanenten Arbeitseinsatz richten, sind gesellschaftlich akzeptiert und werden nicht öffentlich thematisiert.
MOBILITÄT
Alltägliche räumliche Mobilität dient als Strategie der Überlebenssicherung, ist reduktiv organisiert und folgt dem Ordnungsprinzip des Aufhängens. Die Bewegung innerhalb der sechs Dimensionen der Arbeitswelt ist nicht nur ökonomisch bedingt, sondern durch die Auseinandersetzung mit dem Übernatürlichen auch als philosophisch zu betrachten (Claudot-Hawad 2006b).
RATIONALITÄT
NomadInnen arbeiten in verschiedenen Produktionssektoren, wodurch sie eine breite Risikoabsicherung erreichen. Viehzucht, Milchökonomie, Handwerk, Handel und neuerdings Tourismus sind subsistenzsichernd, aber auch marktwirtschaftlich orientiert. Die nomadische Milchökonomie der Frauen dient rein dem Verbrauch, wohingegen ihre Kleinviehwirtschaft und ihre handwerklichen Tätigkeiten sowohl auf den Verbrauch ausgerichtet, aber auch als Rücklage für den Handel zu sehen sind. Durch die Dromedarzucht erwirtschaftet der Nomade ein Surplus. Vieh wird auf den Märkten der Oasen zur Ware. Mit dem durch Verkauf der Tiere erzielten Gewinn werden die erforderlichen Einkäufe (Mehl, Kleidung, und so weiter) getätigt: Es handelt sich also um eine intakte Wirtschaftsform.
Die nomadische Handlungskonvention bildet das Substrat der Nomadologie der Arbeit. Der institutionelle Rahmen der Arbeit wird einerseits durch die Zweigenerationen-Familienwirtschaft, die in sich autonom agieren kann, andererseits durch die Verwandtschaftskooperative verkörpert.
Der Beruf NomadIn, oder vielmehr die Berufung dazu ist jedoch mehr als nur ein Arbeitsstil: sie ist ein Lebensstil.
AUSZUG AUS:
Anja Fischer
Nomaden der Sahara: Handeln in Extremen