Nomadismus

 
Etymologie des Begriffs

 
Der Begriff Nomadismus wird als Bezeichnung für ein spezifisches Stadium der Menschheitsgeschichte, für eine spezielle Wirtschaftsform und für eine bestimmte mobile Lebensweise verwendet. Der Terminus setzt sich aus dem Wort Nomade (Altgr.: auf der Weide umherschweifend) und dem Suffix -ismus (Altgr.: auf eine bestimmte Art handeln) zusammen.

Als Nomadismus wird eine Lebens- beziehungsweise Wirtschaftsform bezeichnet,
a) die durch zyklische Mobilität gekennzeichnet ist,
b) deren Lebensunterhalt hauptsächlich durch extensive Weidewirtschaft bestritten wird,
c) der eine hohe Flexibilität innewohnt, die es ermöglicht, ungünstigen ökologischen und sozioökonomischen Faktoren auszuweichen und
d) die in permanenter Interaktion zur sesshaften Bevölkerung steht und somit Teil eines ineinander greifenden gesellschaftlichen Gefüges ist.

Durch die Wirtschaftsweise Nomadismus ist es möglich, selbst extreme Landschaftsräume ökonomisch zu nutzen, so wie es zum Beispiel bei Imuhar (Tuareg) Nomaden in der Zentralsahara oder bei Nenej Hasavo (Nenzen) Nomaden in der sibirischen Tundra der Fall ist.



Geschichte des Begriffs und kritische Reflektion

 
Ab dem 19. Jahrhundert wurde der Begriff Nomadismus zunächst als Abschnitt der menschlichen Evolutionsgeschichte und als ein Sonderweg der menschlichen Lebensform behandelt. Wissenschaftler diskutierten Nomadismus als separates gesellschaftliches Phänomen und untersuchten die Entstehungsformen sowie die Erscheinungszeiten. Im englischen und französischen Sprachraum entwickelte sich Nomadismus zu einem Begriff, bei dem die Lebensform mit einer räumlichen Mobilität assoziiert wird und somit auch beispielsweise die Lebensform der Wildbeuter beinhaltet. Die Bezeichnung Pastoralismus wiederum wird in diesem Sprachraum für die extensive Weidewirtschaft der Viehzüchter verwendet.

Wirtschaftsform Nomadismus
Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff Nomadismus zunächst ausschließlich für die Wirtschaftsform der mobilen Viehzüchter verwendet. Fred Scholz definiert Nomadismus als eine sozioökologische Kulturweise. Ende des 20. Jahrhunderts werden Niedergangsthesen zu den ‚letzten Nomaden‘ entworfen, die beispielsweise besagen, dass Nomadismus bei Änderung der Rahmenbedingungen nur Niedergang, Verfall oder Assimilation, niemals aber Weiterentwicklung oder Transformation bedeutet, und dass potentiell von einem endgültigen Verschwinden des Nomadismus ausgegangen werden muss (Scholz 1995, S. 248).

Typisierungen
Es werden Typisierungen entwickelt wie Voll-, Halb- oder Saisonal-Nomadismus. Rezente Forschungen erkennen jedoch die typische Qualität des Nomadismus, nämlich die Fähigkeit, sich durch seine hohe Flexibilität an sich wandelnde ökologische und sozioökonomische Bedingungen anpassen zu können (Calkins/Gertel 2012, S.12). Diese hohe Wandelbarkeit erschwert eine solche Typisierung. So kann der Lebensunterhalt der Nomaden auch fallweise durch Wanderarbeit, Handwerk, Landbau oder Schmuggel ergänzt werden.

Lebensform Nomadismus
In rezenten Studien wird die Mobilität im Nomadismus nicht mehr nur als Suche nach besseren Weidebedingungen gesehen, sondern wird auch als Mobilität auf Grund von politischen Einflüssen, national-staatliche Grenzziehungen, verwandtschaftlichen Belangen und individuellen Präferenzen betrachtet. Damit wird die Lebensform in den Nomadismus-Diskurs mit einbezogen und es werden Strategien der Nomaden im Alltag sowie in Krisensituationen erforscht. Neueste Erkenntnisse haben gezeigt, dass die hohe Bereitschaft zur Mobilität und Flexibilität, die den Nomadismus auszeichnet, dieser Wirtschafts- und Lebensform auch in Zukunft eine Überlebenschance geben dürfte (Streck 2002, S. 6). Es zeigt sich zum Beispiel in Südalgerien, dass der Nomadismus durchaus auch als eine Ausweichstrategie einer verarmten urbanen Bevölkerung dienen kann.

Dienstleistungsnomadismus
Neuerdings wird versucht, in die Nomadismus-Definition auch den Dienstleistungsnomadismus mit aufzunehmen. Diese verwandte mobile Strategie produziert jedoch keine Nahrungsmittel, sondern bietet nach wie vor Dienstleistungen an, die von handwerklichen Tätigkeiten wie Messerschleifen bis zur musikalischen Unterhaltung reichen können. Die Gruppierungen sind nicht mehr in Planwagen unterwegs, sondern fahren mit Kraftfahrzeugen übers Land.

Postnomadische Lebensweise
Aus der extensiven Weidewirtschaft heraus hat sich eine postnomadische Lebensweise entwickelt, in der ehemalige Nomaden nun beispielsweise als Lkw-Fahrer, als Landwirtschaftshelfer oder als Führer in der Tourismusindustrie tätig sind. Sie agieren dabei oft transnational, gleichzeitig bleiben sie ihren nomadischen Wertvorstellungen treu, die zur Quelle individueller und kollektiver Identität geworden sind (Büssow 2011, S. 164). Es ergeben sich Formen der nomadischen Selbstrepräsentation, in der urbanisierte Bevölkerungsgruppen auf das Ideal des nomadischen Lebens zurückgreifen, um den ihrer Ansicht nach moralischen und ökonomischen Verfehlungen der städtischen Lebensformen ein Korrektiv entgegenzusetzen (Prager 2012, S. 3f.).

Postmodernen Theorie/Nomadologie
In den 1980er Jahren entstand im europäischen Gesellschaftsdiskurs der postmodernen Theorie die Metapher der nomadischen Lebensweise als Sinnbild eines postmodernen Lebensstils, das geprägt ist von Mobilität, Flexibilität und Grenzüberschreitung. Deleuze und Guattari (2005) entwarfen eine Nomadologie in der Philosophie, in der das Nomadenleben als antitraditionell und antikonformistisch charakterisiert wird. Es wird ein nomadisches (rhizomatisches) Lebens- und Denkmodell präsentiert, das sich bewusst wehrhaft gegen ein zentralisiertes staatliches Modell wendet. Vilém Flusser schreibt „Wir werden zu Nomaden“(1995: 51), und meinte damit einen weder in Raum noch in Zeit definierbaren Menschen. In diesem Diskurs gehören die Luxus-, Freizeit-, Wissenschafts-, Konferenz- oder Business-Nomaden zur wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Elite.

Offene Fragen, ungelöste Probleme, Forschungsperspektiven


Durch die vielfältigen Erscheinungsformen und durch das hohe Transformationsvermögen des Nomadismus wird der Terminus Nomadismus zu einem schwer zu definierenden Phänomen. Eine jeweils individuelle Betrachtung der Erscheinungsform ist damit unumgänglich. Der Begriff Nomadismus an sich erweist sich auch als ein Konstrukt, da keine nomadische Gesellschaft ihre Lebens- oder Wirtschaftsweise als Nomadismus bezeichnet.
 

Fremdbezeichnung Nomadismus
Die verbale Unterscheidung zwischen nomadischer und sesshafter Bevölkerung spielt in dieser Lebenssphäre kaum eine Rolle. Somit handelt es sich bei dem Begriff Nomadismus klar um eine Fremdzuschreibung. Anstatt den Begriff Nomadismus zu verwenden, wird nun vermehrt von einer nomadischen Lebensweise beziehungsweise Wirtschaftsweise gesprochen.

Eurozentrismus
Im eurozentrischen, postmodernen Diskurs erfährt die nomadische Lebensweise eine metaphorische Reduktion und eine romantisierende und heroisierende Zuschreibung, aber  auch Migranten und Flüchtlinge unterlaufen Grenzen sowie das staatliche Gewaltmonopol. Aber sie sind nicht die Heroen der Postmoderne.

Die Lebensweise der mobilen Viehzüchter ist von je her ohne staatliche Anerkennung ausgekommen, viel mehr wird er oftmals marginalisiert. Erst langsam erkennen die einzelnen Regierungsmächte das außerordentliche Potenzial der nomadischen Lebensweise, durch die selbst scheinbares Brachland nachhaltig bewirtschaftet werden kann.


Bibliographie:


Büssow, Johann: Postnomadische Lebensweise, in: Kleines abc des Nomadismus, hrsg. von Annegret Nippa, Hamburg: Museum für Völkerkunde Hamburg 2011, S. 164.
Calkins, Sandra / Gertel, Jörg: Einleitung, in: Nomaden in unserer Welt, hrsg. von Jörg Gertel und Sandra Calkins, Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 8-18.
Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 2005 [1980].
Fischer, Anja: Nomaden der Sahara. Handeln in Extremen, Berlin: Reimer Verlag 2010.
Flusser, Vilém: Nomaden, in: Nomadologie der Neunziger. Steirischer Herbst Graz 1990 bis 1995, hrsg. von Horst Gerhard Haberl und Peter Strasser, Ostfildern: Cantz 1995, S. 31-57.
Nomadic Societies in the Middle East and North Africa. Entering the 21st Century, hrsg. von Dawn Chatty, Leiden/Boston: Brill 2006.
Prager, Laila: Einleitung, in: Nomadismus in der ,Alten Welt’, hrsg. von Laila Prager, Berlin: LIT Verlag 2012, S. 1-9.
Scholz, Fred: Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1995.
Streck, Bernhard: Systematisierungsansätze aus dem Bereich der ethnologischen Forschung, in: Mitteilungen des SFB 586 „Differenz und Integration“ 1: Nomadismus aus der Perspektive der Begrifflichkeit, hrsg. von Stefan Leder und Bernhard Streck, Halle/Saale: Orientwissenschaftliche Zentrum 2002, S. 1-9.
 
Internetressource:
http://www.nomadsedde

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