Zukunft des Nomadentums
NIEDERGANGSTHESEN:
Der Mythos des „letzten Nomaden“ ist vor allem in der Nomadismusdebatte inden 1980/90er Jahren stark ausgeprägt.„Der Nomadismus als Lebens- und Wirtschaftsweise ist überall im Rückgang oder Verfall begriffen oder ganz verschwunden. Dem Nomaden wird keine Perspektive mehr für die Zukunft eingeräumt“ (Scholz 1991: 13).
Solche Aussagen entsprechen der in der Nomadismus-Debatte vorherrschenden Niedergangsthese im 20. Jahrtausend, die besagt, dass Nomadismus bei Änderung der Rahmenbedingungen nur Niedergang, Verfall oder Assimilation und niemals Fortentwicklung oder Transformation bedeutet.
Der prognostizierte Untergang des Nomadentums hat sich nicht bewahrheitet, stattdessen hat sich das hohe Adaptionsvermögen des Nomadentums wider bestätigt.
REZENTE ERKENNTNISSE:
Dieser im europäischen Nomadismus-Diskurs anhaltenden Endzeitstimmung stehen rezente Erkenntnisse gegenüber, die gerade das große Potenzial an Vitalität und Anpassungsfähigkeit der nomadischen Lebensweise erkennen (Chatty 2006: 5).
Adaption und Transformation in nomadischen Gesellschaften sind durchaus reziprok zu sesshaften Gesellschaften zu sehen.
Stefan Leder (2005) schreibt in der Einführung zum wissenschaftlichen Forschungsprojekt nomadsed zu Nomaden und der Staat:
„Ökonomische und soziale Rahmenbedingungen, oft im Verein mit kulturellen Traditionen, können das Überleben pastoralistischer Nischen- und Reservewirtschaft, mitunter auch die Rückkehr zur nomadischen Weidenutzung fördern.
Vieles spricht dafür, dass die mobile Nutzung natürlicher Weiden Zukunft hat.
Mancherorts weist diese Wirtschaftsweise Zuwachsraten auf. Ökologisch angepasste, mobile Weidewirtschaft durch staatlich beaufsichtige und gezähmte Nomaden erscheint nationalen und internationalen Agenturen heute wieder als eine sinnvolle Option für regionale Entwicklungen. Die nomadische Mobilität prägt nicht nur die Wirtschaftsform sondern darüber hinaus die gesamte Lebensform. Ökologisch angepasste, mobile Weidewirtschaft durch staatlich beaufsichtige und gezähmte Nomaden erscheint nationalen und internationalen Agenturen heute wieder als eine sinnvolle Option für regionale Entwicklungen. Allerdings müssen dazu tradierte Gewohnheiten, lokale Interessengegensätze und historisch gewachsene Feindbilder moderiert und überwunden werden. ... “ (Leder 2005)
ZWEI KONKRETE BEISPIELE:
Im eigenes Forschungsgebiet Zentralsahara:
Es zeigt sich zum Beispiel in Südalgerien, dass der Nomadismus durchaus auch als eine Ausweichstrategie einer verarmten urbanen Bevölkerung dienen kann.
So kam es auch bei den Kel Ahnet Nomaden zum Zuzug von bis dahin sessaften Familien, die nun mobile Viehzucht betreiben. Es handelt sich um verarmte städtische Bevölkerung, die durch die enorm hohe Arbeitslosigkeit in den Ortschaften keine Zukunftsperspektive sieht. Generell ist ein Wachstum des Nomadentums in der Zentralsahara festzustellen.
Auch Jeremy Keenan (2003, 2004: The Lesser Gods of the Sahara) berichtet von einem Rivival des Nomadentums im Ahaggar:
"I would even suggest that since 1999 there has been a modest revival in the nomadic economy. This revivalism probably began around 2000, when the bulk of the camel subsidy payments began to be made, and was sustained by the Park's salaries and the gradual pick-up in tourism. In addition, poor rainfall through 1999, 2000 and 2001 gave way in both 2002 and 2003 to some of the best rains in living memory." (Keenan 2003: 187)
Im Forschungsgebiet der Rentier-Nomaden in der Tundra:
„I have therefore suggested that we should consider nomadism among the Nentsy beyond economic terms-as more than `a distinct form of food producing economy`(Khazanov 1994:17). This leads me to disagree with academic reflections about the ´end of nomadism`(Scholz 1991, Humphry & Sneath 1999). Besides mobile grazing of animals and producing food for a reliable subsistence base, nomadism among the Yamal-Netsy is the continuous movement of families across the land as an act of free choise. This mobile way of live gives them respect and prestige in their own community,...“ (Stammler 2005: 335)
Durch die Wirtschaftsweise Nomadismus ist es möglich, selbst extreme Landschaftsräume ökonomisch nach wie vor erfolgreich zu nutzen, so wie es zum Beispiel bei Imuhar (Tuareg) Nomaden in der Zentralsahara oder bei Yamal-Netsy (Nenzen) Nomaden in der sibirischen Tundra der Fall ist.
BEDROHUNGEN
Jedoch wird die Lebensweise der Nomaden immer wieder bedrängt.
Bedrohungen der politischen Ökologie des Pastoralismus (nach Galaty 2013:505):
- Übergiff von Nicht-Pastoralisten auf Grasland ( z.b. Landwirtschaft, Ölindustrie,...)
- Ausbreitung von Ortschaften
- Steigerung der sozialen Stratifikation und Elitebildung bei der Aneignung von pastoralen Ressourcen
- Bewaffnete Konflikte (z.B. Rebellionen und in Folge Banditentum)
- Landreformen und Entwicklungshilfeprojekte (z.b. Überweidung bei neuen Brunnen, Einführung artfremder Pflanzen, Semi-Sesshaftmachung (vor allem von Kindern),...)
"Most suprising, the pursuit of rangeland development projects has in most cases failed to achieve economic growth or enhanced livestock production and marketing in the pastoralist zone" (Homewood, Kristjanson and Trench 2009 in Galaty 2013:505)
AUFSTIEG DURCH BILDUNG?
Es zeichnet sich bereits seit längerem ab, dass sich das Heilsversprechen gängiger Modernisierungs- und Entwicklungskonzepte, demzufolge Bildung zu individueller wie kollektiver Emanzipation führt (Drèze und Sen 1995), für die Mehrheit schulisch gebildeter junger Menschen und deren Familien nicht erfüllt.
Noch heute halten aber gerade Entwicklungsorganisationen auch angesichts unerfüllter Hoffnungen am Glauben eines Aufstiegs durch Bildung fest. (Martin/Schulz 2015)
In Bezug auf das Sahara-Nomadentum ist erkennbar, dass viele Nomadenkinder nach einer schulischen Ausbildung nicht wieder zum Nomadismus zurückkehren, sondern grossteils in der urbanen Arbeitslosigkeit enden bzw. sich subversiven Tätigkeiten widmen.